Es gibt keine wichtigeren Themen in der Welt als Übergewicht

So scheint zumindest DER SPIEGEL zu denken, denn die Ausgabe 06/2023 hat Übergewicht als Titelthema und behandelt im Heft die „schreckliche“ und „unaufhaltsame“ Verfettung Deutschlands. Anders kann man wahrscheinlich auch die Priorisierung dieses Themas nicht rationalisieren und rechtfertigen, denn schließlich gibt es auch pressierende Themen wie Krieg in Europa, Verfehlung der Klimaziele, Massenentlassungen, Inflation und, nun ja, wir wollen hier ja auch keine schlechte Laune verbreiten, oder? Also, Übergewicht ist so wichtig, dass es all diese Themen von der Titelseite verdrängen kann.

Vielleicht liegt es ein wenig auch daran, dass der Monat der guten Vorsätze und der Fitness-Center- und Weightwatchers-Anmeldungen gerade vorbei ist und man diese gute Opportunität verpasst hat? Oder man denkt sich, dass genau jetzt der richtige Moment ist, das schlechte Gewissen wieder aufzuwärmen, weil wir doch wissen, dass die meisten es eh nicht geschafft haben durchzuhalten. Mit dem Titel, dass man ja kaum was dagegen tun kann, hat man ja auch fast die Entschuldigung mit dazu gekauft.

Oder man denkt sich in DER SPIEGEL-Redaktion, dass ein weiterer Titel über die anderen Krisen der Welt das Ohnmachtsgefühl des Einzelnen nur noch verstärkt. Klar, der Einzelne kann wenig tun gegen den Krieg, die Entlassungen der Konzerne usw. Also lieber ein Thema auf den Titel packen, dass die Menschen an ihre gefühlten und von den Medien verstärkten Defizite erinnert, sozusagen eine mediale Booster-Impfung gegen das Sich-damit-Abfinden oder vielleicht sogar Selbstbewusstsein-Entwickeln: Übergewicht kann man in den Griff kriegen, zwar „kaum“, aber wenn Du dieses Heft kaufst, dann schon. Wir, die Spiegel-Redaktion, wir „enablen“ Dich, Dein fettes Leben wieder auf die Schmalspur zu lenken.

Bringt das Heft neue Erkenntnisse, wenn man dem Thema schon einen ganzen Titel widmet? Nein. Gesunder Lebensstil. Wenn das nicht hilft, dann eine Magen-OP. Gesunde Ernährung braucht Zeit und Geld, haben viele nicht, ist also auch politisch. Doch an einer Stelle über Dr. Mareike Awes Diätprogramm „Intueat“ wird der Artikel auch mal ehrlich:

„Auch die Teilnahme an Awes Programm kostet mehrere Hundert Euro, die Marketingtricks unterscheiden sich kaum von denen der Diätindustrie, die Awe mitunter scharf kritisiert. »Intueat« wirbt mit »100.000 erfolgreichen Teilnehmerinnen«. Nach Angaben der Pressestelle haben bislang tatsächlich 93.000 Menschen das Programm begonnen, 95 Prozent von ihnen seien Frauen. Bis zum Ende halte allerdings nur etwas mehr als ein Drittel durch.“

Warum wir immer dicker werden – und kaum anders können, Spiegel 6/2023

Und kurz davor heißt es:

„Dabei ist der Abnehmmarkt so etwas wie der Antagonist des noch größeren Markts der Verführung: der Lebensmittelindustrie mit ihrer Werbemacht, dem Diktat der Preise und den versteckten Zutaten. Dick werden ist billig und leicht. Abnehmen schwer und teuer.“

wie oben

Nicht erwähnt wird, dass nicht nur für die Lebensmittel- und die Diät-Industrie viel Geld zu holen ist und dementsprechend Marketing-Tricks eingesetzt werden, sondern dass auch die Medien viel Geld damit machen. Wie DER SPIEGEL mit diesem Titel.

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