Wenn es um die Besetzung von Musicals, Ballettstücken und (Tanz-)Theatern geht, sollten die folgenden Gedanken eine Rolle spielen: In welcher Stimmlage singen die in Frage kommenden Menschen, wie ist Ihre Erfahrung, welche Ausbildung haben sie absolviert und viel harmonieren die verschiedenen Charaktere untereinander, welches Gesamtbild entsteht im Cast. Wenn die Bewerber*Innen dann überzeugen, hat man schon eine gute Grundlage für ein erfolgreiches Stück das, und darum geht es natürlich auch, viele Menschen in seinen Bann zieht und dafür sorgt, dass viele Karten verkauft werden.
Desweiteren kommen in vielen Produktionen sicherlich auch Fragen nach Diversität aus: Erfahrung, Alter, Herkunft und Körperformen. Wenngleich die Prima Ballerina meistens immer noch groß, dünn, anspruchslos und schmerzerprobt ist, so finden doch auch immer öfter andere Körperformen den Weg auf die Bühne. Zum Glück, muss man sagen. Ich habe ein paar Monate mit einem Tänzer am hiesigen Staatstheater zusammen gewohnt und was mich dieses Zusammenleben gelehrt hat, dann dass daran nichts glamourös ist. Wir waren beide Anfang, Mitte 20, ich habe studiert, er hat getanzt. Ich hatte Hobbys und Freund*Innen, er hatte Kolleg*Innen, ein fragiles Zusammensein bis zur nächsten Saison, an der alle wieder an andere Theater gingen. Nach seiner Arbeit lag er meistens rum, irgendwas tat immer weh und die stundenlangen Proben ließen wenig Energie für ein Leben außerhalb übrig. Je nach Gusto der Ballettchef*In durften dann die „muskulösen“ oder „breiten“ Mädchen vorne mittanzen oder wurden halt weniger beachtet. Davon haben wir öfter gesprochen, ich konnte den Druck wahrnehmen. Viele konnten nichts anderes außer tanzen und das geht meistens nicht ewig. Immerhin: Es gab an diesem Theater mittlerweile Kurse und Unterstützung, sich auf ein Leben nach dem Tanzen vorzubereiten, Studium oder Ausbildung mit der Arbeit in Einklang zu bringen. Denn, und das war meinem Mitbewohner auch klar: Es können nicht alle Tanzlehrer*Innen werden, wenn sie selbst nicht mehr aktiv sind.
Und was passiert im Jahr 2023, wenn sich ein Theater für eine Musicalbesetzung für eine Schauspielerin entscheidet, die nicht dünn ist? Die aber auch nicht fett oder mollig ist sondern, nunja, einen (aus meiner Sicht) schönen, etwas breiter gebauten, runden, im besten Sinne normalen Körper hat? So wie vermutlich ein Großteil aller Frauen in Deutschland? Dann ereifert sich eine Zeitung darüber, dass man „mit diesem Körper wohl nicht Germany’s next Topmodell werde“ und dass sie ja hübsch sei, trotz des „erhöhten Body Mass Index“. So geschrieben in der Wuppertaler Rundschau, später revidiert, dennoch schlug dieses Bodyshaming hohe Wellen, zurecht!
Susann Ketley spielt seit dem letzten Herbst die Rolle der Cinderella an der Wuppertaler Oper. Gut ausgebildet, jung aber schon sehr erfahren, Aussicht auf eine große Karriere als Darstellerin und nicht dünn. Leider rücken die erst genannten Attribute vollkommen in den Hintergrund, wenn man gleichzeitig in einem erwähnenswerten vermeintlich andersartigem Körper steckt. Und genau das ist das Problem: Solange wir Körperformen vor allem anderen erwähnen, sind wir im Strudel von unnötigen, gefährlichen und verheerenden Körperbewertungen gefangen. Und viele Frauen und Mädchen lernen: Zu allererst sollte ich dünn sein, möglichst unauffällig und dann schaut vielleicht jemand nochmal hin und sieht, was ich sonst leiste, wer ich eigentlich bin und was ich kann. Man möchte wirklich laut schreien.
Glücklicherweise gab es einen großen Aufschrei und die „dicke Cinderella von Wuppertal“ hatte das gesamte Ensemble hinter sich, die sich gegen Body Sharing und vor Ihre Kollegin stellten. Ich wünsche mir, dass wir in Zukunft dahin kommen, dass wir uns an Stimme, Inszenierung und der Kunst erfreuen und uns nicht mehr wertend auffällt, wie eine Darstellerin gebaut ist. Ich weiß, wir haben einen weiten Weg, aber jede Runde Frau auf der Bühne sorgt dafür, dass ihr mehr folgen können.