
Sue Tilley arbeitet als Büroangestellte (Benefits Supervisor) in London und an der Kasse des Londoner Nachtklubs „Taboo“, sie kommt dort in den 90er Jahren mit Kunstgrößen wie dem Performancekünstler Leigh Bowery in Kontakt. Dieser stellt ihr Lucian Freud vor. Freud war einer der bekanntesten und bedeutendsten Porträtmaler Großbritanniens.
Freud überredet „Big Sue“, für ihn Aktmodell zu sein, ihre körperliche Präsenz und besondere Ausstrahlung faszinierten ihn. Big Sue, Mitte 30 zu diesem Zeitpunkt ist eine sehr runde Frau. Vermutlich würden die meisten Leute sie als fett bezeichnen, aber mit einem abfälligen Zungenschlag. Im Jahrzehnt von „Heroine chic“ war ein solcher Körper vielleicht auch nochmal aufwühlender für andere Menschen als das heute immer noch der Fall ist.
Für insgesamt vier Werke Freuds sitzt sie Modell, oder besser: Sie liegt und hockt. Das erste Werk „Evening in the Studios“ aus dem Jahr 1993 verlangt ihr alles ab, denn dabei liegt sie in unbequemer Haltung nackt auf dem Boden, stundenlang, in mehreren Sessions, die sich über Monate hinzogen, meist am Abend und am Wochenende. Später sagt Tilley, dass sie kurz davor war, aufzugeben.
Das zweite Werk „Benefits Supervisor Resting“ entsteht 1994, ebenfalls über mehrere Monate. Hier konnte Tilley auf einem Sofa sitzen, den Kopf nach hinten gekippt. Im Gegensatz zum ersten Bild sind ihre Haare kurz geschnitten und auch die Schamhaare wurden entfernt.
Für das dritte Werk „Benefits Supervisor Sleeping“ (1995) liegt Big Sue seitlich auf einem Sofa, schlafend. Sie ist wieder nackt und mit einer Hand stützt sie ihre massige Brust. Dieses Bild bricht bei einer Kunstauktion bei Christie’s alle Rekorde, als es 2008 für über 30 Millionen Euro versteigert wird, und das zu Lebzeiten des Künstlers.
Ein Jahr später, 1996, entsteht das letzte Bild der Serie: „Sleeping by the lion carpet„, das Sue auf einem Sessel sitzend und schlafend zeigt, Ihr Kopf wird dabei von ihrer Hand gestützt.
Die Beziehung des Künstlers und seiner Muse ist geprägt von gegenseitigem Respekt, auch wenn die ungeschönten, unvorteilhaften Posen seiner Muse es nicht vermuten lassen, so hatte Freud viel für Big Sue übrig. Er war Perfektionist für seine Zwecke, anfängliche Bitten Sues, sie doch vielleicht in Kleidung mit etwas Make-Up zu malen, wurden nicht gehört. Als Tilley einmal nach einem Urlaub für Freuds Empfinden zu gebräunt war, unterbrachen sie die Arbeit für mehrere Monate, bis sie wieder blass genug war. Auch die Tätowierungen von Sue überschminkte der Maler vor den Sitzungen mit hochdeckendem Make-Up. Obwohl man in diesem Machtgefälle Ausbeutung oder Zwang vermuten könnte, war das nicht der Fall. Sue Tilley sagte später, sie wusste genau, auf was sie sich eingelassen habe. Sie wurde DAS Objekt für die Fleischeslust des Künstlers, roh, überzeichnet und fast unnatürlich aufgedunsen und massig.
Sein Stil zeichnet sich eben genau durch diese intensive, naturalistische Darstellung des menschlichen Körpers aus. Freud hatte eine besondere Fähigkeit, die physische Realität des Körpers in seinen Gemälden zu betonen und die Haut, Muskeln und Körperhaltungen seiner Modelle in einer Art und Weise darzustellen, die oft als ungewöhnlich oder unvorteilhaft empfunden wird.
Freud bevorzugte in der Regel eine realistische, fast fotografische Darstellung und arbeitete mit einer begrenzten Farbpalette, die seine Figuren in einer scheinbar alltäglichen Umgebung darstellte. Durch die hyperrealistische Darstellung seiner Motive erreichte er eine Tiefe und gibt Betrachter*Innen das Gefühl, direkt mit den dargestellten Personen interagieren zu können. Voyeuristisch, sagen die Kritiker*Innen, während die breite Anhängerschaft Freunds in jedem Pinselstrich mehr Tiefe entdeckt.
Sue Tilley, inzwischen Mitte 60, ist durch die Bilder nicht reich geworden, pro Session bekam sie ein paar Pfund. Sie hat Bücher geschrieben, unter anderem über ihre Zeit mit Freud und ist heute noch in der Kunstszene aktiv. Wenn man sie googelt, findet man Bilder einer Frau mit grauen Haaren und wachen Augen. Sie sieht viel lebendiger und jünger aus als auf den Gemälden der 90er.
Angebote, sich nackt fotografieren zu lassen, hat sie immer abgelehnt, das sei etwas völlig anderes als die Kunst, von der sie Teil sein durfte. Es ist ruhiger geworden um sie, aber die Faszination für Freuds Werke, von denen sie Teil sein durfte, dauert an.
Und so wird Big Sue als die wohl teuerste, dicke Frau in die Geschichte eingehen, die nackt auf einem Sofa liegt. Chapeau!