Ich stand die Tage neben einer Frau, die sich ein T-Shirt kaufen wollte. Sie probierte zwei Größen des Shirts an und sagte eher beiläufig: “Das Problem sind immer meine Schultern…”
Ich habe nicht nachgedacht und zu ihr gesagt, dass das Problem sicher nicht ihre Schultern seien, mit denen ist alles ok. Das Problem seien höchstens die Shirts, die in Größe und Schnitt nicht passten. Da wir uns nicht kannten, war sie etwas verdutzt und um ehrlich zu sein: Ich auch. Ich hatte gerade einer wildfremden Person etwas über ihren Körper gesagt. Ungefragt, aus einem Reflex heraus. Es triggert mich, dass sie ihren Körper als Problem empfand. Und genau daher kommt meine schnelle Reaktion: Insbesondere Frauen kaufen Klamotten meistens ein, um irgendwas zu kaschieren, zu verstecken, zu strecken, zu optimieren oder sich im besten Fall unsichtbar zu machen, wenn gar nichts hilft. Ich kenne das selbst, würde meine Shopping-Erfahrung mit Freundinnen eher als anekdotische Evidenz anführen wollen, aber mir fällt eines auf: Das Angebot auf den Kleiderständern wird nach Schnitt, Stoff, Farbe und Größe gescannt, weniger danach, was einem wirklich gefällt. Weil wir alle diese Mythen im Kopf haben, von denen man sich, und ich schließe mich ein, nicht so einfach freimachen kann: Schwarz macht schlank, Querstreifen machen dick, V-Ausschnitt streckt und bitte keine Streublümchen unter einer Körpergröße von 1,62 m. Und wenn man dann unter Berücksichtigung aller Kriterien ein paar Teile gefunden hat, kommt der wirklich unangenehme Part erst noch: Anprobe in der Kabine.
Abgründe tun sich auf. Nicht nur, weil das Licht wenig schmeichelt, das ganze eng und stickig ist und einem dabei heiß und kalt wird, sich zu entblößen und sich dann der Wahrheit zu stellen: Gehe ich heute mit einer Jeans nach Hause oder ist Weinen auch noch eine Option?
Meistens nehme ich, wenn ich überhaupt noch in Läden einkaufe, alle Klamotten in mehreren Größen mit, denn auf die Zahl auf dem Schild kann ich mich nicht verlassen. Ich bin knapp 1,60 groß, rund und kurvig und habe Kleidung verschiedener Marken von Konfektionsgröße 38 (ein schwarzer Mantel) bis 54 (eine Jeansjacke) im Schrank. Der größte Witz ist ein Pulli in XS. Wohlgemerkt alles Kleidung, die mir gleichzeitig passt, nicht etwa alte Teile, in die ich mal reinpasste. Wonach soll ich also gehen, wenn ich etwas kaufe? Meistens verlasse ich mich auf meine Augen, aber je nach Material, Kleidungsstück und Passform ist das hinfällig. Ein Beispiel: Ein Kleid der Größe 44 aus einem Stoff ohne Stretch passt mir vielleicht oben und ziemlich sicher unten um den Hintern nicht. Ist es unten ausgestellt, könnte es klappen, wenn es keine engen Ärmel hat, denn da ist es dann auch wieder zu eng. Von anderen Marken sieht die Sache dann auch wieder anders aus, ein ähnliches Kleid ist dann viel zu weit oder ich komme noch nicht mal mit dem kleinen Zeh rein. In manche Läden gehe ich einfach gar nicht, da ich schon weiß, dass mir da nichts passt, bei anderen Marken kenne ich grob meine Größe. Es ist frustrierend und selbst an den selbstbewusstesten Tagen kann einem das die Laune vermiesen, denn ganz automatisch denkt man: Was stimmt nicht mit mir? Bin ich so komisch, dass mir nichts passt?
Nein! Es hilft, sich ein bisschen mit Kleidergrößen auseinanderzusetzen: Kleidergrößen unterscheiden sich regional und sind nicht genormt. Wenn man alle Informationen dazu liest, kann man zusammenfassen: Es gibt grobe Vorgaben, wo und wie gemessen wird, danach hört es auch schon auf mit der Einheitlichkeit und alle Hersteller können machen, was sie wollen. Dass es verschiedene Stoffe, Anwendungsbereiche und Arten von Klamotten gibt, macht es nicht einfacher, denn natürlich sind die Messungen für einen gut sitzenden BH total anders als für eine Bluse.
(Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Konfektionsgr%C3%B6%C3%9Fe, Stand 19.02.2023)
Was heißt das nun für Verbraucher*Innen? Wir bestellen mehr online, wir schicken demnach auch immer mehr zurück (und tragen dazu bei, dass Online-Shopping teurer wird), weil es uns nicht passt und so genau weiß eigentlich niemand, welche Größe er oder sie trägt. Wir fischen im Trüben bei so etwas Banalem wie Klamotten. Ein bisschen Stoff knechtet uns, hat Einfluss auf unsere Laune und unser Wohlbefinden. Sollte es aber nicht eigentlich umgekehrt sein? Sollten Klamotten eher uns passen, nicht wir den Klamotten?
(https://time.com/how-to-fix-vanity-sizing/)
Hinzu kommt: Über die Jahre haben sich Konfektionsgrößen verändert, da Hersteller gemerkt haben, dass Menschen größer werden, aber dennoch kleine Kleidergrößen bevorzugen als das böse L oder XL. Large ist die Stoff gewordene Todsünde Völlerei, daher wird mit dem sogenannten “Vanity Sizing” seit den 1980ern entgegen gesteuert: Größen werden dahingehend verändert, im wahrsten Sinne des Wortes ausgeweitet, sodass größere Menschen in kleinere Größen passen. Eine Größe S heute war noch in den 50er Jahren eine Größe M oder L.
(ebda.)
Im Übrigen beruht zu Teilen darauf auch der Mythos, dass Marilyn Monroe eine Größe 44 trug und eine “kurvige” und demnach ”richtige” Frau war und nicht so mager wie die heutigen Models. Das ist eine Urban Legend bzw. quasi ein Übersetzungfehler: Viele Ihrer Kleider sind gut erhalten und können ausgemessen werden, sie trug ungefähr eine Größe 34-36 nach heutigen Größen. Nach damaligen Größentabellen war es eine Größe 42-44, was aber nichts darüber aussagt, wie schmal sie wirklich war. Aufgrund ihrer Sanduhr-Figur wird sie missverständlicherweise als kurvig oder sogar eher dick wahrgenommen, was absolut nicht der Wahrheit entsprach.
Und was machen wir nun?
Einfach ist es nicht, denn die Sache ist perfide. Wir alle müssen ja etwas anziehen. Die Konzentration darauf zu lenken, wie sich ein Kleidungsstück anfühlt, wie es sitzt und wie es gefällt, kann helfen. Das ist eine Übung, die man ständig wiederholen muss, denn manchmal beschleicht einen trotz besseren Wissens noch immer ein kaum erklärbares Glücksgefühl, in eine kleinere Kleidungsgröße reinzupassen.
Kleidung muss gar nichts. Nicht (anderen) gefallen, nicht vorteilhaft sein, keine bestimmte Größe haben, nur, damit wir uns besser fühlen. Wenn wir das verinnerlichen, kann uns das freier machen, als sich dem Größenkampf zu stellen, den wir gar nicht gewinnen können. Denn wenn man mal genauer hinsieht, wird klar: Size really does not matter.